Weitsicht – mal (fast) unpolitisch

Weitsicht – mal (fast) unpolitisch

Es gehört zu den Traditionen unter dem Hexenturm, dass die gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Stadt einmal im Jahr zu einem sogenannten parlamentarischen Ausflug zusammenkommen, um einander außerhalb des Protokolls zu treffen und fraktionsübergreifend besser kennenzulernen und auszutauschen.

Dabei ist es schöner Brauch, dass in einen der Stadtteile eingeladen wird, denn Idstein besteht bekanntlich nicht nur aus der Kernstadt – auch wenn manche:r daran immer mal wieder erinnert werden muß. Da bei diesen Ausflügen die Mitglieder der Ortsbeiräte eingeladen sind, erfährt man oft auf ungezwungene Weise viel Interessantes und politisch Relevantes über den besuchten, wie auch die anderen Idsteiner Orte und ihre Perspektiven und Bedürfnisse.

Dieses Jahr führte der Parlamentarische Ausflug nach Walsdorf mit seiner markanten Scheunenfront. Der Walsdorfer Ortsbeirat erläuterte kurz die Pläne für die neu zu schaffende Freizeitfläche am Sportplatz und richtete auch das Augenmerk der Anwesenden Mandatsträger:innen auf die Jugendraumproblematik – gerade aus Sicht der ULI ein wichtiges Thema, nicht nur für Walsdorf: Welche Angebote können den jungen Idsteiner:innen in ihrem Heimatdorf gemacht werden? Was hält sie am Ort?

Das Walsdorfer Vereinsleben stellte sich in Person von Andrea Schaus, Vorsitzende des Bürgervereins e.V., und ihrer perfekt vorbereiteten, hochinteressanten Ortsführung durchaus beeindruckend vor. Mit 1250 Jahren Geschichte und einer Vergangenheit als Kloster-Standort hat Frau Schaus einen tiefen Griff in den historischen Informationsfundus der Ortschaft tun können, der auch für Ur-Idsteiner:innen so manch Neues, bislang Unbekanntes bereithielt.

Die erste Etappe führte natürlich zum Wahrzeichen Walsdorfs, zum aus dem 14. Jh. stammenden Hutturm. Wer unternehmenslustig genug war (und das waren fast alle), stieg die Wendeltreppe des Turms empor hoch erklomm, durchaus abenteuerlich, über lange Leitern und durch enge Stiegen die Aussichtsplattform des Turmes. Was für ein Weitblick, der da als Belohnung wartete!

Frau Schaus erklärte (im Wortsinne: anschaulich) „von des Turmes Zinne“ Einzelheiten zu Geschichte und Entstehung von Walsdorf, da der Standort eine gute Sicht auf alle Straßen des historischen Ortskerns bietet. Wer weiß schon, und hat es selbst nachvollzogen, daß man von dort oben, den Bereich des ehemaligen Klosterbezirks erkennen kann? Das im 12. Jahrhundert gegründete Benediktinerkloster bestimmte die Geschicke Walsdorfs immerhin grob 500 Jahre lang, bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts.

Der Hutturm selbst ist als ehemaliger Wachturm Bestandteil der Stadtmauer. Ja, Stadtmauer – denn im 14. Jahrhundert erhielt Walsdorf tatsächlich die Stadtrechte. Auch das ein Detail, das gerade die heutigen Kommunalpolitiker:innen fest im Hinterkopf verankern sollten – unser ULI-Hashtag #Idsteinhat12Stadtteile will genau dies fortlaufend bewußt machen: Politische Entscheidungen müssen alle Orts- oder Stadtteile gleichwertig denken und berücksichtigen!

Frau Schaus verstand es, ihr beeindruckendes, umfassendes Wissen anekdotenreich und höchst kurzweilig zu vermitteln – auch während der weiteren, nun wieder „bodennah“ fortgesetzten Ausflugs-Wanderung. Wir ULI-Teilnehmende bedanken uns ausdrücklich hierfür bei ihr!

Auch der traditionelle Ausklang bei einem zünftigen Picknick fand in historischer Kulisse statt: Einer der Stadtverordneten lud hierzu großzügig in den Innenhof seines historischen Scheunenfront-Gebäudes ein. Das Ambiente eignete sich offensichtlich vorzüglich, um über die partei- und fraktionspolitischen Grenzen hinweg miteinander ins Gespräch zu kommen – dem erklärten Ziel des traditionellen Parlamentarischen Ausflugs: Auch wenn es in den Sitzungen häufig etwas rau in Ton und Umgang miteinander zugeht, kam es während des Parlamentarischen Ausflugs zu etlichen Beweisen dessen, dass man sich auch bei konträren Positionen auch respektvoll mit anderen als der eigenen Position auseinandersetzen kann.

Wir ULIs werden diese wirklich schöne „außerparlamentarische“ Erfahrung jedenfalls als Bekräftigung unseres steten Bemühens um eine die Kolleg:innen aller Fraktionen achtende Debattenkultur mit in die Fortsetzung der politischen Arbeit (und Auseinandersetzung) nach der Sommerpause nehmen.

Zu Fuß durch Idsteins demokratische Geschichte

Ein Mann alleine erlässt Gesetze und Dekrete, ist oberster Richter und hat die Polizeigewalt inne – kaum vorstellbar?

So war es aber vor zweihundert Jahren im Herzogtum Nassau unter Adolph Wilhelm Carl August Friedrich von Nassau-Weilburg. In Folge der Märzrevolution im Jahr 1848 wuchs bei vielen Bürgern das Begehren diesen Absolutismus abzuschaffen und mehr Beteiligung zu erreichen, auch in der Stadt Idstein und so kam es am 10. Juni 1849 zum Idsteiner Demokratenkongress, also vor 175 Jahren.

Aus diesem Anlass wurde in Idstein nun der Tag der Demokratie gefeiert. U.a. wurde hierzu eine Stadtführung angeboten, welche ein Schlaglicht auf die Orte warf, welche mit dem Kongress in Verbindung stehen. Zum Beispiel war das „Zum Goldenen Lamm“, im Vor-Vorgängergebäude des heutigen Lammes, der Ort, am welchem die Vorbesprechung zum Kongress erfolgte. Es wurde eine Tagesordnung beschlossen und ein 10-Punkte-Katalaog mit Forderungen formuliert, denn die Zeit für den Kongress war begrenzt. Zentral war die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung für Nassau, Anerkennung der Deutschen Nationalversammlung, sowie der Abzug von Truppen aus der Pfalz und Baden.

Der Kongress fand an einem Sonntag in der Unionskirche statt, zwischen den Gottesdiensten. 300 Delegierte, aus allen Ämtern des Herzogtums tagten dort. Sie konnten bis zum frühen Abend den Forderungskatalog beschließen und eine Deputation von 56 Mitgliedern zum Herzog entsenden, um mit ihm die Forderungen zu verhandeln.

Einer der Einladenden war der Idsteiner Likörfabrikant Gustav Justi, dessen Wohnhaus in der Weiherwiese, Ecke Zuckerberg, heute noch zu sehen ist. Vor der Volks- und Raiffeisenbank steht eine Büste, welche Gustav Justi darstellen soll. Als Mitbegründer des Vorschuss- und Creditvereins, der heutigen VR Bank Untertaunus, spielte er auch bei der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt eine wichtige Rolle.

Ein weiterer Ort ist das Augustinum, das damalige Gymnasium, welches ein Hort für „radikale“ politische Ideen war. Bekannt wurden die Brüder Snell, welche später in die Schweiz emigrieren mussten. Justi und andere Mitglieder des Demokratenkongresses wurden wegen Hochverrates und Majestätsbeleidigung angeklagt, letztlich jedoch freigesprochen. Dieser Vorgang zeigt, dass das Eintreten für demokratische Rechte, die Schaffung einer Republik, also eine „Sache für alle“, gefährlich war. Die damals Regierenden haben auch entsprechend reagiert und die Revolutionäre weiter bekämpft. So sollte es noch bis zum Ende des 1. Weltkrieges dauern, bis mit der Weimarer Republik von einer vollständigen Demokratie gesprochen werden konnte.

Für uns heute ist die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland so selbstverständlich, friedlich und stabil, dass wir uns kaum noch Gedanken zu den Anfängen machen.

Es gibt heute verschiedene Möglichkeiten sich zu engagieren, in Initiativen, in Parteien und politischen Gruppen und man kann sich wählen lassen. Oder einfach jenen über die Schulter schauen, die öffentlich beraten (z.B. in der Stadtverordnetenversammlung oder den Fachausschüssen). Das erfordert Einsatz und Mühe, aber es lohnt sich – für uns alle.