Die Vergabe des Forschungsauftrages zur Geschichte des Kalmenhofes in der Zeit des Nationalsozialismus an die ausgewiesenen Experten Dr. Harald Jenner und Christoph Schneider ist erfreulich und zeigt Perspektiven für Idstein auf:
Bald 80 Jahre nach dem Beginn der systematischen, rassistisch intendierten Morde auf dem Kalmenhof, denen in der Zeit des Nationalsozialismus annähernd 750 als „unwert“ gebrandmarkte Menschen zum Opfer fielen, ist zu hoffen, dass nun alle noch in Archiven und andernorts befindlichen Fakten zum bisher nicht zweifelsfrei georteten Gräberfeld auf dem Kalmenhof und zur Einbindung des Krankenhauses in die Mordmaschinerie öffentlich werden.
Hiermit kann eine Grundlage für den notwendigen und lange ausstehenden Vollzug eines Paradigmenwechsels in der Idsteiner Gedenkkultur geschaffen werden. Dass es nach wie vor eine Gedenkhierarchie zu Ungunsten derjenigen gibt, die von den NS-Ideologen als „lebensunwert“ gebrandmarkt und ermordet wurden, ist auch in Idstein nicht bestreitbar.
Dr. Harald Jenner ist Mitautor der im Jahr 1987 erstmalig erschienenen Untersuchung zur Geschichte der Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus (Titel: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr). Die Untersuchung ist nicht nur vorbildlich, sondern 2016 bereits in der dritten, aktualisierten Fassung erschienen. Für „Idsteiner Verhältnisse“ hat diese Publikation in mehrfacher Hinsicht „Leuchtturmfunktion“. In der Neuauflage wird nicht nur auf die lokale Gedenkkultur an verschiedenen Standorten eingegangen, sondern auch ein Fokus auf die biografische Rekonstruktion von Lebensgeschichten Ermordeter gelegt; darunter auch Opfer, die in der „Kinderfachabteilung“ des Kalmenhofes ermordet wurde. Forschungsdesiderate, die für die umfassende Darstellung der Geschichte des Kalmenhofes noch zu erfüllen sind.
Alleine aus den Alsterdorfer Anstalten wurden im Jahr 1943 52 Kinder unter menschenunwürdigsten Bedingungen nach Idstein deportiert und im dortigen Krankenhaus ermordet. Die Akten dieser Opfer sind weitgehend erhalten, ihre Biografien in Idstein unbekannt, während die sterblichen Überreste ihrer geschundenen Körper wie die der weiteren, vielen hundert Opfer auch heute noch so im anonymen, meist Massengrab liegen, wie es dem Wunsch der Täter entsprach.
Mit Blick auf den Idsteiner Ehrenfriedhof und den dort in Einzelgräbern mit individueller namentlicher Nennung Bestatteten wird die Gedenkhierarchie zu Ungunsten jener Menschen lokal fassbar, denen seitens des NS-Regimes das Recht auf Leben, auf eine würdige Bestattung und ein würdiges Gedenken abgesprochen wurde und die dieses, trotz der eindeutigen Rechtslage (Gräbergesetz der Bundesrepublik Deutschland) bis heute nicht erhalten haben.
Dass Christoph Schneider langjährige Expertise in der Erforschung der regionalen Gedenkkultur für Opfer der „Euthanasie“ vorzuweisen hat, sich wissenschaftlich/publizistisch mit der Gestaltung des Gräberfeldes für Opfer der „Euthanasie“ auf dem Frankfurter Hauptfriedhof befasst, und zum Gegenwartsbezug des Themenkomplexes (u.a. Das Subjekt der Euthanasie 2011) publiziert, lässt auf Ergebnisse der Studie hoffen, die neben den definierten Fragestellungen nach der Authentizität der Tatorte und der Lage der vermuteten Gräberfelder auch einen großräumigen Bezug der „Idsteiner Verhältnisse“ zur Gedenkkultur für die Opfer des Krankenmordes herstellen. Eine Fragestellung, die mit Blick auf die Verschiebungen in der politischen Landschaft und die Versuche, der Gedenkkultur die ethische Legitimationsgrundlage zu entziehen oder sie politisch umzudeuten, im Jahr 2017 aktueller ist denn je.