Mit der Einstellung der Transporte nach Hadamar im August/September 1941 wurde im Idsteiner Kalmenhof eine sogenannte Kinderfachabteilung im zweiten und dritten Stock des Krankenhauses eingerichtet. Getötet wurde meist durch Vergiftung mit Medikamenten oder auch gezieltes verhungern lassen. Opfer waren Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen, Epileptiker, Mongoloide, „Idioten“ und „Schwachsinnige“, aber auch Jugendliche, die aus Sicht der Nationalsozialisten als arbeitsscheu oder asozial galten. Auffällig war, dass die Getöteten sich meist nur wenige Tage im Kalmenhof aufhielten, bevor sie verstarben. Die sogenannten Stammzöglinge waren deutlich seltener von Tötungen betroffen, da sie für den Betrieb des Kalmenhofs, des Lazaretts und die Bewirtschaftung des Hofguts Gassenbach eingesetzt waren.
Formal entschied der Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden in Berlin durch Ermächtigungen zum Töten. Er stützte sich dabei auf die Beurteilungen der Ärzte vor Ort insbesondere hinsichtlich der Brauchbarkeit und Bildungsfähigkeit. Den Ärzten war es möglich, Kinder zurückzustellen, für die eine Ermächtigung zur Tötung bereits vorlag. Also lag die letzte Entscheidung über eine Tötung immer bei den Kalmenhofärzten. Sie waren somit entgegen ihren eigenen späteren Darstellungen keine „bloßen Befehlsempfänger“. Das auf dem Kalmenhof eingesetzte Personal erhielt für jeden „Sterbefall“ eine Sonderzahlung, die zunächst bei 5,00 RM, später bei 2,50 RM lag.
Da der städtische Friedhof nicht für die zahlreichen Sterbefälle am Kalmenhof ausreichte, wurden die Opfer zeitweise auf dem jüdischen Friedhof begraben, der 1942 angekauft worden war. Als auch dieser nicht ausreichte, wurde auf einem abgelegenen Ackergelände in der Nähe des Krankenhauses ein Gräberfeld eingerichtet. Die Begräbnisse wurden möglichst still und heimlich durchgeführt und waren letztlich ein einfaches Verscharren. Der hierbei verwendete Klappsarg konnte vielmals benutzt werden.
Der von 1932 bis 1947 in Idstein ansässige evangelische Pfarrer Boecker notierte im Kirchenbuch „… im Kalmenhof regiert jetzt der Tod“
Quelle: Wikipedia
Wir freuen uns, daß wir Frau Hartmann-Menz für dieses Gespräch gewinnen konnten.
ULI: Frau Hartmann-Menz, Sie sind in die im vergangenen Jahr eingesetzte Kalmenhof-Kommission berufen worden. Dieses Gremium wurde nach Bekanntwerden der Pläne für den Verkauf oder den Abriss des ehemaligen Krankenhauses sowie eines dazugehörigen, großen Grundstücks installiert. Was verbindet Sie mit dem Idsteiner Kalmenhof?
Hartmann-Menz: Wer sich mit der Erforschung der Biografien von Opfern des Patientenmordes im Bezirksverband Nassau befasst, stößt unweigerlich auf die um die Tötungsanstalt Hadamar eingerichteten sog. „Zwischenanstalten“, in welchen tausende von Menschen aller Altersgruppen und mit unterschiedlichsten Erkrankungen in den Jahren 1940 bis 1945 den Tod fanden. Hierzu gehören u.a. die Anstalten Weilmünster, Eichberg und eben auch der Kalmenhof. Dieser hat historisch gesehen noch eine ganz andere Bedeutung: Ursprünglich als Stiftung des liberalen, weltoffenen und um sozialen Ausgleich bemühten Frankfurter Bürgertums um die zentrale Stifterperson Charles Hallgarten errichtet, stand der Kalmenhof bis zum Jahr 1933 für interreligiöse Toleranz. Der Kalmenhof zeichnete sich dadurch aus, dass den dort untergebrachten Jugendlichen eine Zugewandtheit entgegengebracht wurde, die im Gedanken der Reformpädagogik wurzelte. Ein Klima, das nach der Übernahme des Kalmenhofes durch die Nationalsozialisten brachial in den Staub getreten wurde, bevor schließlich die Selektion, die systematischen Deportationen nach Hadamar und die Morde in der „Kinderfachabteilung“ einsetzten.
ULI: Frau Hartmann-Menz, seit der Errichtung der Kalmenhof-Gedenkstätte im Jahr 1987 sind mittlerweile 30 Jahre vergangen. Die Debatte in Idstein hat sich insbesondere an der Frage der bis heute nicht ausfindig gemachten Gräberfelder entzündet. Wie bewerten Sie diese Problematik vor dem Hintergrund des Gräbergesetzes der Bundesrepublik Deutschland?
Hartmann-Menz: Der Gedenkort am Kalmenhof kann nicht auf ausschließlich auf die Gräberfelder reduziert werden. Sowohl das Krankenhauses mit seiner wechselvollen Geschichte seit dem Jahr 1927, die dahinter liegende Leichenhalle wie eben auch das umliegende Gelände müssen als Tatort von NS-Verbrechen begriffen werden. Beim Blick in den Kalmenhof-Prozess der Jahre 1946/1947 fällt auf, dass die Mordtaten in der sog. „Kinderfachabteilung“ in einem unabweisbaren grauenvollen Dreiklang stehen. In den Zeugenaussagen zum Kalmenhof-Prozess der Jahre 1946/1947 wie auch den Voruntersuchungen der Staatsanwaltschaft werden Leichenhalle, Krankenhaus und Gräberfeld immer wieder in einem wechselseitigen Zusammenhang genannt: es handelt sich also um einen Tatort mit unterschiedlichen Schauplätzen. Richtig ist, dass das im Jahr 1951 erlassene Gräbergesetz (Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft) auf dem Kalmenhof nicht umgesetzt wurde, obwohl eine klare Vorgabe des Gesetzgebers existiert. Dass sich der LWV als Kommunalverband ein solches Versäumnis zuschulden kommen lässt, dies nicht nur am Standort Idstein, ist bemerkenswert.
Das Landgericht Frankfurt verurteilt im „Kalmenhof-Prozeß“ wegen Euthanasiemorden in erster Instanz den angeklagten Verwaltungsleiter Wilhelm Großmann und die beiden Ärzte, Hermann Wesse und Mathilde Weber, entsprechend der Strafanträge der Staatsanwaltschaft zum Tode, die Oberschwester Wrona zu acht Jahren Zuchthaus sowie die zwei restlichen Angeklagten wegen Misshandlungen zu zehn und vier Monaten Gefängnis. Das Verfahren zieht sich, da alle Verurteilten in die Revision gehen, bis Mitte der fünfziger Jahre hin. Bereits am 09.02.1949 verurteilt das Schwurgericht Frankfurt den 1947 noch zum Tode verurteilten Großmann sowie Mathilde Weber zu 4½ und 3½ Jahren Zuchthaus, die Oberschwester Wrona wird von der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Großmann muss seine Reststrafe aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr antreten, Weber wird noch im Februar 1949 entlassen. Der Arzt Hermann Wesse wird wegen der von ihm in der Kinderfachabteilung Waldniel verübten Verbrechen in einem weiteren Prozess in Düsseldorf am 24.11.1948 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt und im September 1966 wegen Haftunfähigkeit entlassen.
ULI: Haben Sie hierfür eine Erklärung?
Hartmann-Menz: Für die Standorte Weilmünster, Eichberg und Kalmenhof aber auch Hadamar ist belegt, dass Initiativen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der dort geschehenen Verbrechen in der NS-Zeit ausschließlich von außen kamen. Der erste Impuls in Idstein wurde im Jahr 1981 durch Pfarrer Siebert (evangelische Kirchgemeinde Heftrich 1975-1983) gesetzt, der in einem Brief an die Leitung des Kalmenhofes „Spurensicherung vor Ort“ einforderte. Hintergrund war eine vom Pfarramt Heftrich und der Aktion Sühnezeichen durchgeführte Fahrt an die Stätten der Vernichtung in Polen. Noch im Jahr 1978 waren die Morde auf dem Kalmenhof im Rahmen der 90-Jahrfeier des Kalmenhofs öffentlich geleugnet worden (siehe ZEIT-Artikel „Euthanasie 40 Jahre Schweigen“). Selbstverständlich hat es hier inzwischen einen Bewusstseinswandel gegeben. Mit Blick auf die gegenwärtige Gedenkkultur in der Bundesrepublik Deutschland ist dennoch zu konstatieren, dass für die im Zuständigkeitsbereich des LWV (Landeswohlfahrtsverband) liegenden Stätten des Terrors deutlich Aufholbedarf besteht. Ganz sicher aber fehlt dem LWV als Kommunalverband mit vollkommen anderen Aufgaben die notwendige Expertise, die Gräberfelder fachgerecht zu orten.
Martina Hartmann-Menz M.A.
Studium der Geschichte, Germanistik und Anglistik in Frankfurt/Main
Abschluss in englischer Wissenschaftsgeschichte
Lehrerin an der Fürst-Johann-Ludwig und der Glasfachschule Hadamar
Berufenes Mitglied der Historischen Kommission für Nassau
Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar (2004-2011)
Interkulturelle Arbeit in diversen Gremien
Forschungen zur Regionalgeschichte mit den Schwerpunkten Holocaust, Patientenmord, jüdische Geschichte
Biografische Recherchen zu Frankfurter Opfern des Holocaust mit Schwerpunktsetzung auf sog. „Asoziale“
Wissenschaftliche Beteiligung (2012) bei der posthumen Aberkennung des Ehrenbürgerrechts für den NS-Täter und ehem. Landrat im Landkreis Limburg, Heinz Wolf
Erstellung des Gutachtens (2014) zur Biografie und ideologischen Verankerung des NS-Pädagogen Franz Kade als Diskussionsgrundlage der im Jahr 2015 erfolgten Umbenennung der ehemaligen Franz-Kade-Schule in Idstein Wörsdorf
Mitglied in der von Vitos Eichberg (2016) einberufenen Kalmenhof-Kommission
Mitarbeit in den Stolpersteine-Initiativen Frankfurt, Kassel, Stuttgart, Hadamar und Bad Camberg
Forschungsprojekte: Opfer des Patientenmordes im erweiterten Landkreis Limburg Weilburg; Elz in der NS-Zeit mit Erstellung der Biografien für die Verlegung von Stolpersteinen im Auftrag der Gemeinde Elz.