Frontalunterricht Physik statt Dialog mit den Bürgern

von 18. Sep 20172 Kommentare

Sie nannte sich „Bürgerdialog Stromnetz“, die Veranstaltung, zu der am 14. September vom gleichnamigen Bündnis aus Marketing- und Moderations-Unternehmen in die Idsteiner Stadthalle eingeladen wurde.

Der angekündigte Dialog wurde, schon bevor er überhaupt startete, stark seitens der Moderatorin ins Regelkorsett gepresst:
Das Auditorium wurde vorab streng ermahnt, sich mit Fragen knapp zu fassen, vorhabenbezogene Aspekte zum hier in Idstein geplanten Ultranet nicht zu thematisieren und, vor allem, von persönlichen Angriffen auf die geladene Referentin, Dr.-Ing. Hannah Heinrich, abzusehen.

Erstaunlich strenge Worte und Regeln für etwas, das sich neutral-sachliche Information und Dialog mit besorgten Betroffenen auf die Fahnen geschrieben hatte. Die Mitarbeiter von „Bürgerdialog Stromnetz“ touren seit Monaten an der Seite von Vertretern des Ultranet-Vorhabenträgers Amprion durch die Republik und haben offenbar Erfahrungen gesammelt, die ihnen die o.g. schmallippige Ansage angebracht erscheinen ließ.

Dr.-Ing. Hannah Heinrich

re: Oliver Cronau, Leiter Genehmigungen/Umweltschutz Leitungen Amprion

Derart eingeleitet stieg Dr. Heinrich in ihre Frontalvorlesung Physik ein, unter der aufmerksamen Beobachtung der anwesenden Amprion-Mitarbeiter Joelle Bouillon (Unternehmenskommunikation) sowie dem Leiter Genehmigungen/Umweltschutz Leitungen Oliver Cronau, die interessanterweise bei der vorgeschalteten Begrüßung der Vertreter von Kommunalpolitik und -verwaltung unerwähnt blieben.

Die von Physik-Interessierten durchaus geschätzten Details zu Wechsel- und Gleichstrom als solchem gingen leider an dem, was das Auditorium vorrangig interessierte, thematisch komplett vorbei. Die Idsteiner Zeitung repetierte den Inhalt der „Physikstunde“ zwar treulich, quasi als Vorlesungs-Skript; dies trug aber leider nach Ansicht der ULI auch nicht angemessen zur Einordnung dessen bei, wie die Fragen und Besorgnisse der Idsteiner Betroffenen beanwortet werden können.

Es ist schon richtig: Es gab für die kritisch-interessierten Beobachter der ULI wenig Anlaß für die Vermutung, daß die Ausführungen Dr. Heinrichs sachlich fehlerhaft sein könnten. Was jedoch für viele zu spüren war und anhand einiger dezidierter Nachfragen aus dem Auditorium, u.a. auch durch die ULI, schließlich ausdrücklich klar wurde:
Was richtig ist, kann dennoch unvollständig oder – im hier diskutierten Zusammenhang Ultranet-Besorgnisse der Bevölkerung – irrelevant sein.

Und im vorliegenden Falle waren Dr. Heinrichs Ausführungen leider beides:

Verkürzt und damit verfälschend an den Stellen, an denen sie überhaupt einmal auf die zentrale besorgte Frage der Bevölkerung einging, nämlich auf das etwaig vorhandene oder klar auszuschließende Vorliegen akuter und/oder chronischer Auswirkungen der elektrostatischen wie magnetostatischen Felder und, vor allem, der von ihnen ausgelösten Sekundäreffekte (hierzu gehören z.B. Feinstaubwolken ionisierter Partikel, die im Bereich der Hochspannungsleitungen entstehen und vom Wind vertragen werden können).

Es ist auf der einen Seite zwar richtig, daß eine derartige womögliche Gesundheitsgefährdung für bestehendes wie auch ungeborenes Leben nicht eindeutig und nicht im Kausalzusammenhang mit, z.B., ionisierender Strahlung gezeigt werden konnte.

Aber es gibt durchaus Berichte, die einen solchen Zusammenhang mindestens nahelegen und auch eine statistische Abhängigkeit von Ionenwolken und etwa kindlicher Leukämie zeigen:

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Übersetzung des nebenstehenden Textes

„Epidemiologische Studien haben immer wieder und übereinstimmend eine positive Abhängigkeit zwischen extrem niederfrequenten magnetischen Feldern und Leukämie des Kindesalters festgestellt, mit einem offensichtlich 2-fach erhöhten durchschnittlichen Risiko bei 24-stündiger Exposition von Strahlungsintensitäten über 0.3 – 0.4 µT (siehe. Abb. 2.8.5.)

Allerdings ist ein kausaler Zusammenhang bislang nicht zweifelsfrei dargestellt worden, aufgrund der bei Beobachtungsstudien bestehenden Möglichkeit von Verzerrungen und konfundierenden Effekten [d.h. nicht ausreichend herausfilterbaren oder herausgefilterten womöglichen Störvariablen]; und aufgrund der Tatsache, daß entsprechende weitergehende Evidenz aus experimentellen Studien und seitens mechanistischer Daten bislang fehlen.

Falls ein Kausalzusammenhang allerdings in der Tat besteht, lassen sich schätzungsweise < 1 – 4% aller Fälle von kindlicher Leukämie auf die Exposition in extrem niedrigfrequenten magnetischen Feldern zurückführen.“

Damit ist die klare Frage, die im Sinne des Vorsorgeprinzips geklärt werden muß, diejenige, die auch die ULI in der Veranstaltung stellte:

„Wie ordnen Sie, Frau Dr. Heinrich, Ihre Aussagen, daß elektrische wie magnetische Felder einer HGÜ wie die des Ultranets „nicht von Belang“ seien, in den Zusammenhang der Empfehlung der Strahlenschutzkommission (SSK) ein.“ [ULI liest die nebenstehend farblich angestrichene Passage der SSK-Stellungnahme vom September 2013 aus einem bei der Veranstaltung ausliegenden Ansichtsexemplar vor.]

Die Antwort Dr. Heinrichs?

Sehr wortreich und schon dadurch wenig nachvollziehbar, sogar für die anwesenden Naturwissenschaftler mit medizinisch-professionellem Hintergrund und Erfahrungsschatz. Daher die klärende Nachfrage der ULI am Ende der länglichen Ausführungen Dr. Heinrichs:

„Sind also seitdem Studien im Sinne der vorgenannten Empfehlung der Strahlenschutzkommission durchgeführt oder in die Wege geleitet worden, ja oder nein?“

Antwort Dr. H. Heinrich: „Nein!“

Gesundheitspolitisch ist damit ganz klar nunmehr endlich das zu leisten, was die SSK bereits vor exakt vier Jahren in ihrer Stellungnahme und Empfehlung gefordert hat:

Ein Pilotprojekt wie dasjenige des Ultranets, das eine bisher noch nie in realiter umgesetzte Technologie nutzen möchte, nämlich die gemeinsame Führung von Hochspannungs-Gleich- und –Wechselstrom auf einem beide Leitungen tragenden Hybridmast …

… ein solches Pilotprojekt, das zum ersten Mal vom theoretischen „Rechenblatt“ in unsere Lebenswelt übertragen wird, muß vor dem unkontrollierten Feldversuch mit vielen 100 Trassenkilometern und einer Zahl von bis zu 1 Mio. betroffenen Anwohnern und Anwohnerinnen in sinnvoll aufgesetzten kontrollierten Studien über ausreichend lange Zeit mit ausreichend vielen Probanden dergestalt untersucht werden, daß alle aus wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Vorsorge-Sicht und Vorsorge-Pflicht relevanten Parameter möglichst umfassend und hochqualitativ untersucht werden.

Das Bundesamt für Strahlenschutz hat kürzlich einen solchen Forschungsauftrag erhalten.

Bis dieser durchgeführt ist und die  entsprechenden Studienergebnisse ausgewertet sind, muß es die vornehmste Pflicht der Bundesnetzagentur und aller gewählter Volksvertreter im Bund sein, Alte und Junge, Gesunde und bereits Vorgeschädigte wie Herz- oder Lungenkranke, Implantatträger, Schwangere und solche, die in Zukunft noch Kinder zeugen oder gebären können, sowie nicht-humane Mitgeschöpfe vor nicht ausreichend untersuchten und damit nicht ausreichend prognostizierbaren Auswirkungen einer Stromtrasse zu schützen.

Diese Zeit müssen und können wir uns als Gesellschaft mit Verantwortung füreinander und unsere Zukunft nehmen; zumal die HGÜ-Trasse Ultranet entgegen den Marketingversprechen des Vorhabenträgers Amprion den versprochenen Beitrag zur Energiewende frühestens im Jahr 2025 wird leisten können; und bis dahin plant, fossilen Braunkohlestrom von A nach B, durch Idstein hindurch zu transportieren – eine Energieform, die den Zielen der Energiewende komplett zuwiderläuft.

NACHTRAG:
Die Frage, die die ULI gerne noch an Dr. Heinrich gerichtet hätte, blieb leider aufgrund zunehmend tumultösen Veranstaltungsverlaufs ungestellt:

Wenn tatsächlich jede sachgerecht durchgeführte kontrollierte und ausreichend lange Studie mit aussagekräftiger „statistischer Power“ (wie es im Fachjargon heißt) nur bestätigen wird, daß keinerlei Gesundheitsbedenken zu gewärtigen sind, warum wehren sich die Vorhabenbetreiber und ihre Referenten dann derart vehement gegen die sachlich-wissenschaftlich nur folgerichtige und ganz nüchterne Forderung nach einem solchen Nachweis?

Alle Seiten hätten Ruhe bzw. könnten beruhigt sein, wenn man ihn erbrächte.

Daß man dies nicht zu tun bereit ist, hinterläßt einen schalen Geschmack.