Im Jahr 1962 bestand auf der Ebene der westdeutschen Bundespolitik ein antifaschistischer Konsens. Im gleichen Jahr beschlossen der Magistrat unter Leitung von Bürgermeister Schreier und das Idsteiner Stadtparlament eine Magistratsvorlage, die die Benennung einer Idsteiner Straße in „Rudolf-Dietz-Straße“ zum Ziel hatte.
Nun, 62 Jahre später, hatten sich die Stadtverordneten mit der Umbenennung dieser Straße zu beschäftigen.
Voraus ging dem Ganzen am 22.11.2023 eine Informationsveranstaltung für die ca. 60 Anliegerinnen und Anlieger. Wie dem Protokoll der Veranstaltung zu entnehmen ist, nahmen sieben Anliegerinnen und Anlieger sowie zwei Vertreter der Eigentümergesellschaft neben etlichen Vertreterinnen und Vertretern aus Magistrat, Stadtverwaltung und Gremien teil. Weiter ist im Protokoll zu lesen, „dass sich die Anwohner mehrheitlich für den Weg des geringsten Aufwandes und der geringsten Kosten entschieden haben.“ Von einer historischen Betrachtung, geschweige denn historischen Verantwortung, einen ausgewiesenen Nationalsozialisten und Antisemiten mit einer Straßenbenennung nicht zu ehren, ist nicht die Rede – obwohl in der Veranstaltung sogar Beispiele der Schmähwerke des sogenannten Heimatdichters gezeigt wurden.
Die ULI hatte einen Änderungsantrag zur Namensänderung eingebracht, der zunächst die Umbenennung in „Pfarrer-Siebert-Straße“ zum Ziel hatte. Bereits im Ausschuss wurde das Thema Umbenennung sehr intensiv diskutiert. Mit großer Eindringlichkeit trug der Ortsvorsteher Idstein-Kern Dr. Brünger seine Position vor. Er bezeichnete sie als schwierig, da er abzuwägen hatte zwischen seiner persönlichen Einstellung und der Empfehlung des Ortsbeirates (der Ortsbeirat hatte mit Ja: 3 Nein: 8 Enthaltung: 0 die Umbenennung abgelehnt).
Geschäftsordnung für Ortsbeiräte
§ 2 Rechte und Pflichten
(1) Zu den vornehmlichen Aufgaben der Ortsbeiräte gehört es, die Beziehungen zwischen der Stadt Idstein und der Bürgerschaft zu fördern sowie Kontakte zu den im Ortsbezirk ansässigen Vereinigungen zu pflegen.
(2) Die Ortsbeiräte können zu allen Fragen, die den Ortsbezirk angehen, Anregungen und Vorschläge unterbreiten.
(3) Die Ortsbeiräte nehmen zu denjenigen Fragen Stellung, die ihnen von dem Magistrat oder der Stadtverordnetenversammlung vorgelegt werden.
(4) In wichtigen Angelegenheiten, die den Ortsbezirk betreffen, ist der Ortsbeirat zu hören. Angelegenheiten, die insbesondere als wichtige Angelegenheiten anzusehen sind, werden in einer zwischen dem Magistrat und den Ortsbeiräten abgestimmten Auflistung festgelegt.
(5) Zu allen Angelegenheiten, über die der Magistrat beschließt, ist der jeweilige Ortsbeirat zu unterrichten. Im übrigen sind alle Anhörungen und Unterrichtungen durchzuführen, die in den bestehenden Grenzänderungsverträgen geregelt sind.
Nun muss man wissen, dass die Beschlüsse des Ortsbeirates für den Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung nicht bindend sind, aber bei den Beratungen eine wichtige Rolle einnehmen sollen. Eine wichtige Rolle hat die Empfehlung eingenommen, jedoch gaben ULI und Bündnis 90/Die Grünen der Diskussion neue Impulse. Wir wiesen sehr konkret auf die nationalsozialistische und antisemitische Haltung des Strassennamensgebers hin und darauf, welche Auswirkungen diese in der seinerzeitigen Gesellschaft Mitte/Ende der 1920er Jahre hatte. Dabei haben wir mehrfach betont, dass wir größten Wert auf ein Zusatzschild legen, das über die Hintergründe der Umbenennung informiert. Geschichtsvergessenheit läßt sich die ULI bestimmt nicht vorwerfen.
Die Argumentation gegen die Umbenennung bestand hauptsächlich in dem Versuch, die Person Pfarrer Sieberts zu diskreditieren; flankiert von der Unterstellung, die ULI wolle die nationalsozialistische Geschichte verschwinden lassen. Man solle sich doch auf die Umsetzung des Bürgerwillens und des Beschlusses des Ortsbeirates konzentrieren. Außerdem beschworen CDU und FDP mehrfach die vermeintliche Gefahr der steigenden Politikverdrossenheit, die sich angeblich zwangsläufig aus der Umbennung der Straße ergeben würde. Der Ausschuss empfahl der Stadtverordnetenversammlung mit fünf Ja-Stimmen, sechs Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen die Umbenennung abzulehnen.
Zur Stadtverordnetenversammlung modifizierten wir unseren Änderungsantrag, dem sich Bündnis 90/Die Grünen und die SPD anschlossen und der somit als gemeinsamer Antrag eingereicht wurde.
Eine beschämende Diskussion nahm ihren Lauf. Je länger sie dauerte, desto würdeloser wurde sie. Unwahrheiten wurden verbreitet: „Es ist das Recht des Ortsbeirates, Straßen umzubenennen.“ oder „Die Geschichte soll negiert werden“. Wir wollten am liebsten manchem Stadtverordneten zurufen: „Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie denken!“
Eine demokratische Entscheidung war selten so schwer auszuhalten.
Ich habe mich geschämt, ein Mitglied dieser Stadtverordnetenversammlung zu sein.
Unter kaum beherrschbaren Tränen verstieg sich der Fraktionsvorsitzende der FWG letztlich sogar dazu, um Vergebung im christlichen Sinne zu werben. Vergebung? Für einen Mann, der willentlich seine jüdischen Mitmenschen verunglimpfte und damit frühzeitig den Boden für den tödlichen braunen Antisemitismus bereitete? Der Adolf Hitler und den von den Nationalsozialisten propagierten Führerkult verehrte? Der junge Menschen indoktrinierte im Sinne des nationalsozialistischen, menschenverachtenden Weltbildes?
Gelebte Demokratie bedeutet aber natürlich auch: Abstimmungen erfolgen nur unter anwesenden Stadtverordneten. Es ist den Befürwortern der Umbenennung ULI, Bündnis 90/Die Grünen und SPD weniger gut gelungen, krank gemeldete Fraktionsmitglieder zur Erreichung der rechnerisch möglichen Mehrheit zu aktivieren als der CDU, deren entschuldigte Mandatsträger letztlich doch zur Abstimmung in die Stadthalle kamen. Diesen Fakt anzuerkennen, ist gerade bei einem so wichtigen Thema eine bittere Pille, aber demokratisches Gebot.
Die namentliche Abstimmung ergab 21 Stimmen gegen die Umbenennung und 20 Stimmen für die Umbenennung.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung finden Sie am Ende des Beitrages.
Herr Stadtverordnetenvorsteher –
Liebe Kolleginnen und Kollegen –
Liebe Gäste –
Wir haben heute einen Punkt auf der Tagesordnung, der im Grundsatz schon lange in unserer Gesellschaft angekommen ist.
Wie stellen wir uns zu unserer deutschen Vergangenheit und deren Auswirkungen bis heute – was haben wir gelernt und verstanden – damit meine ich u. a. Ausgrenzung von Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen.
Worüber beraten wir heute?
Wer wird seit Anfang der 60ziger Jahre mit einem Straßenschild in Idstein geehrt?
Rudolf Dietz wird uns heute als Lehrer, Schulbuchautor und Heimatdichter vorgestellt. Jedoch war er auch Mitglied der NSDAP und des völkisch-faschistischen, rassistischen und antisemitischen Deutschbundes. Seine bereits ab den 1920er Jahren publizierten antijüdischen Gedichte, bereiteten im Kleinen den Nährboden für das zunehmend um sich greifende Gedankengut des Nationalsozialismus.
Warum Nährboden? Es gab viele Rudolf Dietz in Deutschland.
Nach der Machtergreifung trat Rudolf Dietz in Schulen auf, um dort vor allem jene Gedichte vorzutragen, die die Diktatur stützten, Menschen jüdischen Religionsbekenntnisses aber verunglimpften. Um seine Gedichte vortragen zu können, diente Dietz sich offensiv bei den Nationalsozialisten und den regionalen Schaltstellen der Macht an sowie profitierte er auch wirtschaftlich von seiner Geisteshaltung.
Ruth Pappenheimer würde am 8. November 99 Jahre alt.
Sie galt dem NS-Regime als Halbjüdin, darüber hinaus wurde sie schon früh in das Schema der Asozialen eingepresst und nach dem frühen Tod der Mutter der Fürsorgeerziehung übergeben. Ruth Pappenheimer wurde im Alter von 18 Jahren kurz vor ihrer Entlassung aus der Fürsorgeerziehung auf den Kalmenhof verbracht und im dortigen Krankenhaus am 20. Oktober 1944 von dem Arzt Hermann Wesse durch die Verabreichung von Morphium-ermordet. Ihre Ermordung gilt als Beispiel dafür, dass auch geistig und körperlich vollkommen gesunde Kinder und Jugendliche im Kalmenhof ermordet wurden, wenn sie sich nicht in das NS-Rassekonstrukt einfügen ließen.
Ruth Pappenheimer wurde auf dem Kalmenhof-Friedhof anonym verscharrt. Die Lage ihres Grabes ist bis heute unbekannt.
Grund genug, um Ruth Pappenheimer stellvertretend für die vielen Ermordeten im Kalmenhof zu ehren.
Nichtsdestotrotz soll ein Zusatzschild über den historischen Hintergrund informieren und gleichzeitig den Wandel der gesellschaftlichen Haltung dokumentieren, der sich seit den 1960ziger Jahren vollzogen hat.
Um es ganz klar zu sagen:
Es geht nicht darum, vermeintlichen Bürgerwillen umzusetzen, dem es am Ende zu viel ist, persönliche Ausweispapiere und die Adresse zu ändern –
sondern, dass wir als Stadtverordnete für 12 Stadtteile abzuwägen haben.
Darüber hinaus ist es an der Zeit, sich nicht nur in Absichtserklärungen zu ergehen, sondern eine klare Position und Haltung aufkommenden populistischen Strömungen entgegenzustellen.
Wir alle anerkennen das Grundgesetz und bekennen uns damit zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, und damit folgerichtig auch jeder Diskriminierung eine scharfe Absage erteilt.
Ich bitte Sie von ganzem Herzen, sich unserem Antrag anzuschließen und mit einer großen Mehrheit auch ein Signal in die Idsteiner Stadtgesellschaft zu senden.
Liebe ULI, ich teile jedes Ihrer Argumente, dass der Strassenname hätte geändert werden sollen. Wie in vielen aktuellen Situationen ist meiner Meinung nach dennoch die rückblickend moralische Entrüstung stärker als das vorausblickende Engagement – darin müssen wie uns verbessern. Konkret: wir hätten vorab mehr Anwohner zu Betroffenen machen müssen – und nicht hinterher auf sie schimpfen. Das diffamiert einfache Bürger. Die Folgen von politischer Diffamierung sehen wir evtl. in aktuellen Landtagswahlen.
So sind jetzt die AntragstellerInnen schuld am Morgengrauen des Faschismus in Deutschland ?
Liebe/r K., haben Sie vielen Dank für Ihren Kommentar. Das ist die Krux mit der deutschen Geschichte, wir können sie nur rückblickend betrachten und daraus lernend nach vorne schauen und heute hoffentlich angemessene Entscheidungen treffen.
Zu Ihrer Anmerkung bezüglich der Anwohnerinnen und Anwohner: wir haben deren Position zur Kenntnis genommen bzw. wieder gegeben. Von einer Diffamierung kann keine Rede sein.