Zu spät und nicht zielführend
In der Stadtgesellschaft wie auf den sozialen Medien machen seit dem Fahrplanwechsel und der Einführung des neuen sogenannten On-Demand-Busverkehrs „EMIL“ die Nutzer: innen des innerstädtischen ÖPNVs ihrem Unmut Luft:
Seitdem neuerdings die Busse der Linien 221 und 222 nur noch ein temporäres Ergänzungsangebot zur Grundversorgung durch EMIL darstellen, ist Busfahren in der Kernstadt für viele Fahrgäste unbequemer, teurer und zum Teil sogar unmöglich geworden: Wer nicht über ein Smartphone und unbare Zahlmöglichkeiten verfügt, wer mit Rollator zwischen 9 und 13 Uhr oder am Wochenende Bus fahren möchte, der wird dies nicht mehr ohne weiteres tun können, denn zu diesen Zeiten fahren nur zwei EMIL-Kleinbusse im Stadtgebiet herum. Diese wollen per App gerufen und unbar bezahlt werden und nehmen Rollatoren (wie auch Kinderwagen, Hunde und ähnliches „Sperrgut“) nicht mit.
Sowohl die CDU als auch die FWG haben sich bereits mit empörtem Unterton den Beschwerden der Bevölkerung angeschlossen: Die CDU sprach von einem „Fehlstart“ und „systemischen Fehlern“ und fordert „schnelle Abhilfe“, die sie sich vom sogenannten Fahrgastbeirat erhofft, den sie schnell zur „Heilung“ des eigenen Fehlers beantragt hat. Auch die FWG fordert „eine schnelle Verbesserung im Idsteiner Stadtbusverkehr“ und sieht dabei den Bürgermeister in der Pflicht, „konkrete Maßnahmen“ zur „Verbesserung der aktuellen Mißstände“ umzusetzen.
Bei so kurzem Gedächtnis der Kolleg: innen aus anderen Fraktionen will die ULI doch mal kurz an die langwierigen Debatten zum Thema in mehreren stundenlangen Gremien- und Sondersitzungen vor einem Jahr erinnern. Am Ende dieser Diskussionen hat der mehrheitliche politische Wille zur Einführung des originär von der SPD vorgeschlagenen Systems gestanden, das nun lautstark beklagt wird. Da der „Fehlstart“ schon damals absehbar war, haben wir das nun grandios auf den Bauch gefallene Konzept nicht mitgetragen und statt dessen nachdrücklich für eine Alternative geworben, in der EMIL nicht das Rückgrat des Busangebots gebildet hätte.
Es ist schon bemerkenswert, daß die Fraktionen der CDU und der FWG erst jetzt – nach erfolgter Vergabe und Umsetzung – verstehen, daß das mit ihren Stimmen verabschiedete Konzept für die Neuordnung des Stadtbusverkehrs nicht funktionieren kann. Von Anfang an haben der Stadtverordnete Patrick Enge (Bündnis 90/Die Grünen) und die Autorin mit viel Engagement zu verdeutlichen versucht, daß ein sinnvolles, für die Nutzenden akzeptables Stadtbuskonzept weiterhin auf der Grundversorgung durch die Linien 221 und 222 aufsetzen muß; und daß der neue und durchaus zukunftsweisende Baustein des EMIL lediglich ein Zusatzangebot darstellen sollte – nicht umgekehrt. Weiter erinnert sich die Verfasserin an das zähe Ringen um eine ausreichend attraktive Neuordnung des Busverkehrs in der Kernstadt.
Es ist schon tragisch, denn EMIL hätte einen tollen Start verdient gehabt: Das On-Demand-System kann nämlich vor allem in den Ortsteilen und bei deren Verbindung untereinander und mit der Kernstadt eine wichtige Rolle spielen. Es wäre höchst bedauerlich, wenn EMILs wichtiges infrastrukturelles Potential für die Ortsteile ohne Not durch die politisch vermurkste Kernstadt-Premiere verbrannt würde. Immerhin hat die ULI eine möglichst rasche Umsetzungsprüfung für alle Ortsteile noch erfolgreich in dem ansonsten wenig vorausschauenden politischen Beschluß unterbringen können.
Die Einrichtung eines Fahrgastbeirats, der jetzt von CDU und FWG offenbar mit viel Hoffnung aufgeladen wird, haben wir als ULI-Fraktion nicht mitgetragen. Ein solcher Beirat wird keinerlei Weisungskompetenz oder auch nur Mitspracherecht gegenüber der Busbetreibergesellschaft RTV haben. Somit wird er lediglich eine nicht zielführende Mehrbelastung für die Verwaltung der Stadt Idstein bedeuten.
„Sich der mangelnden Weitsicht des SPD-Antrags zunächst anzuschließen und die Alternativoption zu verwerfen, nun aber lautstark die verbale Faust gegen die Umsetzung des eigenen Votums zu schütteln, erscheint schon recht populistisch“, konstatiert ULI-Fraktionsvorsitzende Ursula Oestreich. „Eine Korrektur der auf 8 Jahre an die RTV vergebenen Leistung ist jetzt nicht mehr ohne weiteres und schon gar nicht kurzfristig möglich. Das zeigt schon ein Blick auf die fehlenden Haushaltsmittel, die keine signifikanten Leistungszubuchungen in 2023 erlauben (Leistungsrücknahmen sind ausgeschlossen). Daran wird auch die geforderte Delegation an einen nicht ermächtigten Beirat oder den Bürgermeister, der hier ebenfalls keine Zuständigkeit besitzt, nichts ändern.“
War das der „Idstein-Wumms“ oder sogar ein „Doppel-Wumms“, mit dem die Idsteiner Kommunalpolitiker die Bürger zu Jahresbeginn überraschten?
On-Demand – (ein neues Zauberwort?) Angebote sind sicher dann sinnvoll, wenn sie die klassischen ÖPNV-Angebote – primär am Stadtrand und in ländlichen Regionen und/oder Ortsteilen – ergänzen. Auf Idstein bezogen konnte es nur heißen: nicht entweder oder, sondern sowohl als auch, beides.
Ja, On-Demand als Ergänzung zu dem seit Jahrzehnten in Idstein bestehenden und bewährten Stadtbusverkehr. Übrigens: Mit dem Stadtbusverkehr war Idstein bei dessen Einführung ein regionaler Vorreiter (s. VEP 2035).
Während sich bundesweit Stadtbusverkehre in Städten in einer Größenordnung von 20.000 bis 100.000 Einwohnern offensichtlich bewährt haben, so auch in Idstein, wurde dieses nunmehr ohne Not durch ein – insbesondere für ältere Bürger – benutzerunfreundliches, kompliziertes System abgeschafft.
Die seither vorhandenen beiden Stadtbuslinien wurden ja nicht nur für Fahrten von und zur Schule oder Arbeit benutzt, sondern auch für Einkaufs- und sonstige private Fahrten wie bspw. zum Arztbesuch, Apotheke u.a.m. Es ist daher nicht überraschend, dass – ähnlich wie in anderen Städten – über 50jährige Bürger einen erheblichen Anteil am Passagieraufkommen ausgemacht haben dürften. Diese brauchten seither keine besondere Lektüre studieren, um einen On-Demand-Bus zu bestellen, oder um eine Fahrkarte zu kaufen. Wenn überhaupt, bedurfte es nur weniger Tastendrücke oder etwas Münzgeld.
Wie sollen diese Menschen eine App herunterladen, wenn sie noch nicht einmal über ein Smartphone verfügen oder allenfalls damit telefonieren können? Eine Benutzerfreundlichkeit dieses neuen Systems, insbesondere für ältere Menschen, erschließt sich mir nicht, eben so wenig wie andere oft bemühte Vorteile.
Auch im Hinblick auf den Verkehrsentwicklungsplan 2035 ist die jetzt getroffene Entscheidung für mich nicht nachvollziehbar. Hierbei hatte sich der Gutachter noch für eine Weiterentwicklung des attraktiven Stadtbusverkehrs ausgesprochen und festgestellt, dass „im Kernstadtbereich mit dem Stadtbus bereits ein gut nachgefragtes Angebot besteht. Vor Errichtung ergänzender flexibler Angebote sind die potenziellen Auswirkungen auf das Grundangebot sorgfältig zu bewerten und Kannibalisierungseffekte zu vermeiden“.
Da bleibt der Bürger nur noch fassungslos zurück.
Sehr richtiger Artikel!
Die Zukunft heißt Auto oder Fußmarsch.
Emil scheint nur ein flexibles Angebot zu sein, denn wer im Alltag jedesmal einen Bus bestellen muss verliert wertvolle Nerven und vor allem Zeit.
Wenn ich die Kinder mit dem Bus zum Kindergarten bringe, muss ich zurück laufen, weil der nächste Bus auf den Gänsberg in 2,5 Stunden kommt. Da bestelle ich mir bestimmt keinen Emil auf den ich dann unbestimmte Zeit warte.
Kinder abholen um 13 Uhr fällt aus, weil nichts fährt. Täglich Emil buchen??? Da braucht man sich nicht über zuviele Autos vor Kindergärten und Schulen zu wundern.
Spontanität bleibt auf der Strecke, Ältere werden abgehängt, Kinder nicht mitgenommen, Pendler abgeschreckt.
8 Jahre!!! Danke Autostadt
Kompliment für diesen großartigen, erfreulich sachlichen und kompetenten Bericht. Da drängt sich wiederum das Fazit auf:
Gut, dass es die ULI gibt!
Wunderbarer Artikel!!! Aber was jetzt? Wie konnte man so einen gutes Busangebot wie den Idsteiner von heute auf morgen absetzen ohne an die ältern Menschen zu denken oder auch an Menschen die vom Auto auf den Bus umgestiegen sind??? Eine Damen vom Gänsberg sagte mir , dass sie jetzt auch nicht mehr zum Wochenmakrt fahren könne.
Leider haben Sie vollkommen recht, Frau Walther: Wenn man möchte, daß Menschen den ÖPNV nutzen, statt (wieder oder weiter) den eigenen PKW, dann hätte man eine andere Entscheidung treffen müssen. Als die Zeit dafür war.
Die Realität gibt – zum Beispiel, aber nicht nur, auf dem Gänsberg – leider meinen vorausahnenden Befürchtungen recht, derentwegen ich im zuständigen Klima-, Umwelt- und Betriebsausschuß (KUBA) wirklich um eine andere, besser geeignete Lösung gerungen habe. In den KUBA-Debatten hätte man die Chance gehabt, anderes, Besseres zu beschließen. Vorschläge gab es – wir sind damit letztlich nicht ausreichend durchgedrungen.
Natürlich kann man noch immer nachbessern – das wird aber zum einen Flickwerk bedeuten. Und zum anderen, viel schlimmer, wird der Versuch einer Verbesserung des politisch mehrheitlich gewollten IST-Zustandes in jedem Falle Zeit und Geld kosten.
Ersteres ist ärgerlich für alle Betroffenen – und wenn sie sich während der nächsten Wochen frustriert vom ÖPNV abwenden, wird es später vermutlich sehr schwer, sie wieder zurückzugewinnen.
Schwererwiegend jedoch: Der Haushaltsplan für das Jahr 2023 ist mittlerweile verabschiedet. Er ist, um es höflich auszudrücken, sehr straff gehäkelt und verfügt über keinerlei Spielräume für weitere signifikante Ausgaben. Zumindest mir fehlt die betriebswirtschaftliche Kreativität, um aus diesem Haushaltsplan noch Mittel herauszuwringen, die in der Größenordnung näherungsweise das abbilden, was „Heilungsoptionen“ für die aktuelle Struktur des innerstädtischen Busverkehrs fordern.
Vielleicht übersehe ich aber ja etwas und es gibt solche Spielräume, trotz allem. Dann wäre „Heilung“ möglich. Nur dann.