Volkstrauertag – eine Einladung.

Der Volkstrauertag wird bereits seit den 1920ziger Jahren und seit 1952 zwei Sonntage vor dem ersten Adventssonntag begangen und erinnert an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. Er ist ein staatlicher Gedenktag und gehört zu den sogenannten stillen Tagen.

Die zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag findet jeweils im Deutschen Bundestag statt. Eine Rede und ein Wort des Bundespräsidenten in Anwesenheit der Bundeskanzlerin, des Kabinetts und des Diplomatischen Corps ist üblich, ebenso die musikalische Gestaltung, das Spielen der Nationalhymne und des Liedes Der gute Kamerad.

Angelehnt an die Form der zentralen Gedenkstunde werden in allen Bundesländern und den meisten Städten und Gemeinden ebenfalls Gedenkstunden mit Kranzniederlegungen durchgeführt. Öffentliche Veranstaltungen sind am Volkstrauertag stark eingeschränkt. Das Sprechen des Totengedenkens durch den Bundespräsidenten wurde von Bundespräsident Theodor Heuss im Jahr 1952 eingeführt. (Quelle: Wikipedia.de)

Wie hält man es in Idstein mit dem Volkstrauertag?

Ein Blick in die Idsteiner Zeitung vom 28. Oktober diesen Jahres zeigt, daß einige Veranstaltungen am 19. November geplant sind. Gedenkfeiern, Andachten und Kranzniederlegungen an Ehren- und Kriegsdenkmälern in Idstein-Kern, Dasbach, Ehrenbach, Eschenhahn, Heftrich, Kröftel, Nieder-Oberrod, Oberauroff, Walsdorf und Wörsdorf.

Die aktuelle politische Entwicklung gemahnt uns weiterhin sensibel mit Erinnerung und Interpretation der Vergangenheit umzugehen. Das kommt auch im Text des Totengedenkens zum Ausdruck. Wir sind voller Hoffnung, daß die beiden beauftragten Historiker durch ihre Arbeit den vielen hundert Opfern des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms im Idsteiner Kalmenhof ein Gesicht und damit ihre Würde wiedergeben..

Für die Idsteiner Stadtverordnetenversammlung ist der Kalmenhof mit seiner Geschichte ein bedeutender Teil der Idsteiner Stadthistorie. Dazu gehören auch die Unmenschlichkeiten und mörderischen Verbrechen, denen in der Nazi-Zeit auf diesem Gelände vermutlich über tausend Menschen, vor allem Kinder, zum Opfer gefallen sind. Die Möglichkeit des Gedenkens an die Ermordeten muss jetzt und in Zukunft stets in angemessener Weise sichergestellt sein …

Stadtverordnetenfraktionen von CDU, SPD, FWG, B90/Die Grünen und FDP

14. Juli 2016, Gemeinsamer Antrag

Das Totengedenken

„Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind.
Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern,
und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.“

Joachim Gauck

11. Bundespräsident (2012-2017), Totengedenken

Für die ULI ist es eine ihrer Kernaufgaben, eine integrative Stadtgesellschaft zu fördern. Dazu gehört aus unserer Sicht die aktive Einbindung der Menschen, die im Kalmenhof leben, in die Stadtgesellschaft sowie die Erinnerung wachzuhalten an die Vergangenheit des Kalmenhofs während des Nationalsozialismusses.

Diese vergangene Zeit zeigt uns bis heute, wozu Menschen fähig sind – sobald sich die wertebezogenen Rahmenbedingungen ändern.

Einladung*

Die Unabhängige Liste lädt ein zum Gedenken der durch nationalsozialistische „Euthanasie“ in der Kinderfachabteilung ermordeten Menschen.

19. November 2017 um 12.30 Uhr
Treffpunkt vor dem Gerberhaus auf dem Löherplatz

Von dort gehen wir zur Gedenkstätte im Veitenmühlenweg, um gemeinsam einen Kranz niederzulegen und ein paar Worte des Erinnerns und Gedenkens zu sprechen.

*Vorbehaltlich der Erteilung der erforderlichen Genehmigungen durch die Stadt Idstein und den Landeswohlfahrtsverband.

1. September – Gegen das Vergessen

Man stirbt zwei Mal:

Das erste Mal, wenn man aufhört zu atmen.

Das zweite Mal, wenn jemand zum letzten Mal deinen Namen sagt.

-Banksy

Mit einem unveröffentlichten und auf den 1. September 1939 zurückdatierten privatdienstlichen Schreiben Hitlers begann die geheim gehaltene Organisation der Massenermordung von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen im Deutschen Reich, die bis 1945 über 200 000 Patientinnen und Patienten das Leben kostete. Während bis August 1941 v. a. eine Zentralstelle in Berlin anhand der Patientenakten die Tötungsentscheidungen fällte und die Organisation der Transporte in sechs Tötungsanstalten durchführte, entschieden in den darauffolgenden Jahren die betreuenden Ärzte selbst in den jeweiligen Anstalten über Leben und Tod der Patientinnen und Patienten im Rahmen der sogenannten „wilden Euthanasie“.

Quelle: Bundesarchiv

Unsere eingereichten Fragen anläßlich der Bürgerversammlung vom 28. Juni 2017:

Im März 2017 hat die „Kalmenhof-Kommission“ beschlossen, einen unabhängigen Historiker damit zu beauftragen, Fragen zur weiteren Verwendung des ehemaligen Kinderfachkrankenhauses sowie der Lage des oder der Gräberfelder zu klären. Dazu folgende Fragen:

  • Wer wurde beauftragt?
  • Wann beginnt die Untersuchung des Gräberfeldes?
  • Wie lange wird die Untersuchung dauern?
  • Wer trägt die Kosten?
  • Wann wird das Ergebnis vorgestellt?
  • Wie sehen die anschließenden und nächsten Schritte aus?

Die zusammengefassten Antworten von Bürgermeister Herfurth:

Die Kosten für den zwischenzeitlich ausgeschriebenen Forschungsauftrag trägt die Vitos Rheingau. Bislang scheint noch keine Vergabe erfolgt zu sein, denn es wurde mit den Forschungsarbeiten bislang nicht begonnen. Der/Die Historker/in wird sich zunächst einarbeiten und man dürfe von einer Zeitspanne von 7-9 Monaten rechnen, bis ein erster Bericht vorliegt.

D.h. vor April/Mai 2018 kann man nicht mit einem ersten Ergebnis rechnen. Da kann man als interessierter Bürger und Bürgerin nur hoffen, gut Ding will Weile haben.

Heute haben Unbekannte auf dem vermuteten Gräberfeld des Idsteiner Kalmenhofes und am Tatort der Verbrechen, dem Kinderfachkrankenhaus, Blumen abgelegt und Kerzen entzündet, um an die vielen hundert Opfer des Krankenmordes zu erinnern, die auch mehr als 70 Jahre nach den Verbrechen anonym im Gelände verscharrt liegen, so wie es die Täter wollten.

Es ist an der Zeit, diesen Menschen ihre Namen
und damit auch ihre Würde zurückzugeben.

(Nürnberger Dokument PS-630)

Philipp Bouhler
Reichsleiter der NSDAP, Beauftragter für die Aktion T4, die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten

Dr. med. Karl Brandt
chirurgischer Begleitarzt von Adolf Hitler, Beauftragter für die Aktion T4, die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten

Auf ein Wort … Frau Hartmann-Menz, Historikerin (Teil 3)

Ruth Pappenheimer

geboren am 8. November 1925 Frankfurt/Main
ermordet am 23. Oktober 1944 Kalmenhof (Idstein)

Ruth Pappenheimer wurde durch zwei im Abstand von mehreren Stunden verabreichten Morphiumspritzen planvoll getötet.

Am 23. Oktober 1944 fertigt das Standesamt Idstein eine Sterbeurkunde für die am 8. November 1925 in Frankfurt am Main geborene Ruth Pappenheimer aus. Verantwortlich für die darin enthaltenen, unrichtigen Angaben zeichnet der seit Mai 1944 im Idsteiner Kalmenhof als Anstaltsarzt beschäftigte Mörder der jungen Frau, Hermann Wesse. Das Dokument weist als Todesursache des „Anstaltspfleglings unbekannter Eltern“, der um 10.00 Uhr morgens verstorben sei, „Bronchopneumonie, Herz- und Kreislaufschwäche“ aus. Bewusst falsche Angaben zur Todesursache entsprachen gängiger Praxis bei den vielen hundert in der „Kinderfachabteilung“ des Idsteiner Kalmenhofs Ermordeten.

Lesen Sie weiter: Gedenkort – T4

Lesen mehr bei: Wikipedia – Ruth Pappenheimer

Nach dem ersten Teil und dem zweiten Teil unserer Gesprächsrunde mit Martina Hartmann-Menz, folgt nun der dritte Teil.

ULI: Was erhoffen Sie sich von der Stadt Idstein?

Hartmann-Menz: Die Gremien der Stadt Idstein haben einstimmig die Ortung der Gräberfelder auf dem Kalmenhof eingefordert. Dies ist ein erster guter Schritt. Dennoch bedarf es, wie vielerorts, auch in Idstein der großräumigen Aufarbeitung der NS-Geschichte von kommunaler Seite. Diese ist in Idstein eng mit der Geschichte des Kalmenhofes verzahnt. In Idstein, wie überall dort, wo eine Tötungseinrichtung der NS-Zeit eingerichtet worden war, gibt es ein „Innen“ und ein „Außen“. Es gibt Bedingtheiten und Wechselseitigkeiten – sowohl in der Zeit von 1933 und 1945 wie auch in den nachfolgenden Jahren der Aufarbeitung – oder eben Nicht-Aufarbeitung. Sich diesem Komplex und den damit verbundenen Fragestellungen zu öffnen, ist ein Prozess. Zuweilen sind es Debatten wie die um den geplanten Verkauf des Krankenhauses auf dem Kalmenhof, die Impulse für eine Aufarbeitung der NS-Zeit setzen. Ähnliches habe ich im Landkreis Limburg-Weilburg erlebt, wo die ab 2011 geführte Debatte um die NS-Involvierung des ehemaligen Landrates Heinz Wolf zu einem öffentlichen Nachdenken über die NS-Zeit geführt hat.

ULI: Wo sehen Sie den Idsteiner Kalmenhof in 10 Jahren?

Hartmann-Menz: Die rechtsverbindlichen Vorgaben des Gräbergesetzes sind bis dahin vollinhaltlich umgesetzt. Das großräumig geortete Gräberfeldes wird so gestaltet, dass die Namen aller Opfer genannt werden. Im dann sanierten ehemaligen Krankenhaus ist eine Institution untergebracht, die dem Gedenken ausreichend Raum lässt. Die Dauerausstellung aus dem Verwaltungsgebäude ist nach dem dann vorliegenden Forschungsstand überarbeitet und jederzeit zugänglich. Biografien der Opfer können durch eine App mit Bild und Ton abgerufen werden. Die gesamte Anlage wird in jeder Hinsicht barrierefrei gestaltet. Es  erfolgt eine kontinuierliche Aufarbeitung der Geschichte, die auch die Zeit der „schwarzen Pädagogik“ berücksichtigt.

 

Wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch, Frau Hartmann-Menz.

Martina Hartmann-Menz M.A.

Studium der Geschichte, Germanistik und Anglistik in Frankfurt/Main
Abschluss in englischer Wissenschaftsgeschichte
Lehrerin an der Fürst-Johann-Ludwig und der Glasfachschule Hadamar

Berufenes Mitglied der Historischen Kommission für Nassau
Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar (2004-2011)
Interkulturelle Arbeit in diversen Gremien
Forschungen zur Regionalgeschichte mit den Schwerpunkten  Holocaust, Patientenmord, jüdische Geschichte
Biografische Recherchen zu Frankfurter Opfern des Holocaust mit Schwerpunktsetzung auf sog. „Asoziale“
Wissenschaftliche Beteiligung (2012) bei der posthumen Aberkennung des Ehrenbürgerrechts für den NS-Täter und ehem. Landrat im Landkreis Limburg, Heinz Wolf
Erstellung des Gutachtens (2014) zur Biografie und ideologischen Verankerung des NS-Pädagogen Franz Kade als Diskussionsgrundlage der im Jahr 2015 erfolgten Umbenennung der ehemaligen Franz-Kade-Schule in Idstein Wörsdorf
Mitglied in der von Vitos Eichberg (2016) einberufenen Kalmenhof-Kommission
Mitarbeit in den Stolpersteine-Initiativen Frankfurt, Kassel, Stuttgart, Hadamar und Bad Camberg
Forschungsprojekte: Opfer des Patientenmordes im erweiterten Landkreis Limburg Weilburg; Elz in der NS-Zeit mit Erstellung der Biografien für die Verlegung von Stolpersteinen im Auftrag der Gemeinde Elz.

Auf ein Wort … Frau Hartmann-Menz, Historikerin (Teil 2)

Nach dem ersten Teil, fahren wir fort mit der nächsten Gesprächsrunde mit Martina Hartmann-Menz.

ULI: Was ist in Idstein zu tun?

Hartmann-Menz: Sinnvoller Weise sollte der Volksbund Kriegsgräberfürsorge der für solche Fragen zuständig ist und die notwendige, langjährige Expertise vorweisen kann, eine weiträumige Ortung des Gräberfeldes übernehmen. Diesen Vorschlag habe ich dem Gremium bereits nach der 1. Sitzung der Kommission im November 2016 unterbreitet und hoffe sehr, dass dieser Vorschlag Zustimmung findet. Es geht um nichts Geringeres als um späte Gerechtigkeit für diejenigen Opfer des NS-Terrors, die lange vergessen und verdrängt waren. In der real existierenden Gedenkhierarchie der Bundesrepublik Deutschland kommt es erst allmählich zu einem Bewusstseinswandel – dies, obwohl die Opfer der sog. „Euthanasie“ mit dem Jahr 1951 per Bundesgesetz auf eine Stufe mit allen anderen Verfolgten oder Opfern des Krieges gestellt wurden. Wie unterschiedlich die Umsetzung in Idstein erfolgt ist, liegt beim Blick auf den Kriegsgräberfriedhof offen zutage.

ULI: Haben Sie Ideen, wie das ehemalige Krankenhaus und die Leichenhalle in ein Konzept des Erinnerns und Gedenkens eingebunden werden könnten?

Hartmann-Menz: Die Verantwortlichen müssten sich auf die Suche nach einem Bildungsträger, einer Stiftung oder einer Institution machen, die im ehemaligen Kalmenhof-Krankenhaus Erinnern ermöglicht und hieraus gesellschaftliche Impulse für eine zukunftsgewandte Arbeit schöpft. Ein Abriss oder eine Nutzung in einem Kontext, der die Historie der Gebäudes außer Acht lässt, hielte ich für ein vollkommen falsches Signal – zumal in der gegenwärtigen politischen Lage. Populisten und Vertreter der äußersten Rechten agitieren offensiv gegen die Gedenkkultur der Bundesrepublik Deutschland. Begrifflichkeiten oder Denkweisen, die in unmittelbarem Bezug zur NS-Zeit stehen, sollen wieder hoffähig gemacht werden. Als Reaktion hierauf gibt es einen starken Zuspruch bei Gedenkveranstaltungen und kulturellen Veranstaltungen mit der Zielrichtung der Aufarbeitung der NS-Zeit. Sollte der Rechtsnachfolger einer Institution, die zehntausendfachen Massenmord geplant, durchgeführt und erst spät aufgearbeitet hat, in dieser hochbrisanten gesellschaftlichen Lage einen Tatort verschwinden lassen?

Martina Hartmann-Menz M.A.

Studium der Geschichte, Germanistik und Anglistik in Frankfurt/Main
Abschluss in englischer Wissenschaftsgeschichte
Lehrerin an der Fürst-Johann-Ludwig und der Glasfachschule Hadamar

Berufenes Mitglied der Historischen Kommission für Nassau
Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar (2004-2011)
Interkulturelle Arbeit in diversen Gremien
Forschungen zur Regionalgeschichte mit den Schwerpunkten  Holocaust, Patientenmord, jüdische Geschichte
Biografische Recherchen zu Frankfurter Opfern des Holocaust mit Schwerpunktsetzung auf sog. „Asoziale“
Wissenschaftliche Beteiligung (2012) bei der posthumen Aberkennung des Ehrenbürgerrechts für den NS-Täter und ehem. Landrat im Landkreis Limburg, Heinz Wolf
Erstellung des Gutachtens (2014) zur Biografie und ideologischen Verankerung des NS-Pädagogen Franz Kade als Diskussionsgrundlage der im Jahr 2015 erfolgten Umbenennung der ehemaligen Franz-Kade-Schule in Idstein Wörsdorf
Mitglied in der von Vitos Eichberg (2016) einberufenen Kalmenhof-Kommission
Mitarbeit in den Stolpersteine-Initiativen Frankfurt, Kassel, Stuttgart, Hadamar und Bad Camberg
Forschungsprojekte: Opfer des Patientenmordes im erweiterten Landkreis Limburg Weilburg; Elz in der NS-Zeit mit Erstellung der Biografien für die Verlegung von Stolpersteinen im Auftrag der Gemeinde Elz.

Auf ein Wort … Frau Hartmann-Menz, Historikerin (Teil 1)

Mit der Einstellung der Transporte nach Hadamar im August/September 1941 wurde im Idsteiner Kalmenhof eine sogenannte Kinderfachabteilung im zweiten und dritten Stock des Krankenhauses eingerichtet. Getötet wurde meist durch Vergiftung mit Medikamenten oder auch gezieltes verhungern lassen. Opfer waren Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen, Epileptiker, Mongoloide, „Idioten“ und „Schwachsinnige“, aber auch Jugendliche, die aus Sicht der Nationalsozialisten als arbeitsscheu oder asozial galten. Auffällig war, dass die Getöteten sich meist nur wenige Tage im Kalmenhof aufhielten, bevor sie verstarben. Die sogenannten Stammzöglinge waren deutlich seltener von Tötungen betroffen, da sie für den Betrieb des Kalmenhofs, des Lazaretts und die Bewirtschaftung des Hofguts Gassenbach eingesetzt waren.

Formal entschied der Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden in Berlin durch Ermächtigungen zum Töten. Er stützte sich dabei auf die Beurteilungen der Ärzte vor Ort insbesondere hinsichtlich der Brauchbarkeit und Bildungsfähigkeit. Den Ärzten war es möglich, Kinder zurückzustellen, für die eine Ermächtigung zur Tötung bereits vorlag. Also lag die letzte Entscheidung über eine Tötung immer bei den Kalmenhofärzten. Sie waren somit entgegen ihren eigenen späteren Darstellungen keine „bloßen Befehlsempfänger“. Das auf dem Kalmenhof eingesetzte Personal erhielt für jeden „Sterbefall“ eine Sonderzahlung, die zunächst bei 5,00 RM, später bei 2,50 RM lag.

Der letzte Brief von Emil W. aus der »Kinderfachabteilung« Kalmenhof

Da der städtische Friedhof nicht für die zahlreichen Sterbefälle am Kalmenhof ausreichte, wurden die Opfer zeitweise auf dem jüdischen Friedhof begraben, der 1942 angekauft worden war. Als auch dieser nicht ausreichte, wurde auf einem abgelegenen Ackergelände in der Nähe des Krankenhauses ein Gräberfeld eingerichtet. Die Begräbnisse wurden möglichst still und heimlich durchgeführt und waren letztlich ein einfaches Verscharren. Der hierbei verwendete Klappsarg konnte vielmals benutzt werden.

Der von 1932 bis 1947 in Idstein ansässige evangelische Pfarrer Boecker notierte im Kirchenbuch „… im Kalmenhof regiert jetzt der Tod“

Quelle: Wikipedia

 

Wir freuen uns, daß wir Frau Hartmann-Menz für dieses Gespräch gewinnen konnten.

ULI: Frau Hartmann-Menz, Sie sind in die im vergangenen Jahr eingesetzte Kalmenhof-Kommission berufen worden. Dieses Gremium wurde nach Bekanntwerden der Pläne für den Verkauf oder den Abriss des ehemaligen Krankenhauses sowie eines dazugehörigen, großen Grundstücks installiert. Was verbindet Sie mit dem Idsteiner Kalmenhof?

Hartmann-Menz: Wer sich mit der Erforschung der Biografien von Opfern des Patientenmordes im Bezirksverband Nassau befasst, stößt unweigerlich auf die um die Tötungsanstalt Hadamar eingerichteten sog. „Zwischenanstalten“, in welchen tausende von Menschen aller Altersgruppen und mit unterschiedlichsten Erkrankungen in den Jahren 1940 bis 1945 den Tod fanden. Hierzu gehören u.a. die Anstalten Weilmünster, Eichberg und eben auch der Kalmenhof. Dieser hat historisch gesehen noch eine ganz andere Bedeutung: Ursprünglich als Stiftung des liberalen, weltoffenen und um sozialen Ausgleich bemühten Frankfurter Bürgertums um die zentrale Stifterperson Charles Hallgarten errichtet, stand der Kalmenhof bis zum Jahr 1933 für interreligiöse Toleranz. Der Kalmenhof zeichnete sich dadurch aus, dass den dort untergebrachten Jugendlichen eine Zugewandtheit entgegengebracht wurde, die im Gedanken der Reformpädagogik wurzelte. Ein Klima, das nach der Übernahme des Kalmenhofes durch die Nationalsozialisten brachial in den Staub getreten wurde, bevor schließlich die Selektion, die systematischen Deportationen nach Hadamar und die Morde in der „Kinderfachabteilung“ einsetzten.

 

Charles Hallgarten
* 18.11.1838 Mainz
† 19.04.1908 Frankfurt/Main

Hallgarten, der gemeinsam mit Rudolph Ehlers und Karl Flesch zu den Hauptinitiatoren zur Gründung des Kalmenhofs zählt.

ULI: Frau Hartmann-Menz, seit der Errichtung der Kalmenhof-Gedenkstätte im Jahr 1987 sind mittlerweile 30 Jahre vergangen. Die Debatte in Idstein hat sich insbesondere an der Frage der bis heute nicht ausfindig gemachten Gräberfelder entzündet. Wie bewerten Sie diese Problematik vor dem Hintergrund des Gräbergesetzes der Bundesrepublik Deutschland?

Hartmann-Menz: Der Gedenkort am Kalmenhof kann nicht auf ausschließlich auf die Gräberfelder reduziert werden. Sowohl das Krankenhauses mit seiner wechselvollen Geschichte seit dem Jahr 1927, die dahinter liegende Leichenhalle wie eben auch das umliegende Gelände müssen als Tatort von NS-Verbrechen begriffen werden. Beim Blick in den Kalmenhof-Prozess der Jahre 1946/1947 fällt auf, dass die Mordtaten in der sog. „Kinderfachabteilung“ in einem unabweisbaren grauenvollen Dreiklang stehen. In den Zeugenaussagen zum Kalmenhof-Prozess der Jahre 1946/1947 wie auch den Voruntersuchungen der Staatsanwaltschaft werden Leichenhalle, Krankenhaus und Gräberfeld immer wieder in einem wechselseitigen Zusammenhang genannt: es handelt sich also um einen Tatort mit unterschiedlichen Schauplätzen. Richtig ist, dass das im Jahr 1951 erlassene Gräbergesetz (Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft) auf dem Kalmenhof nicht umgesetzt wurde, obwohl eine klare Vorgabe des Gesetzgebers existiert. Dass sich der LWV als Kommunalverband ein solches Versäumnis zuschulden kommen lässt, dies nicht nur am Standort Idstein, ist bemerkenswert.

 

Das Landgericht Frankfurt verurteilt im „Kalmenhof-Prozeß“ wegen Euthanasiemorden in erster Instanz den angeklagten Verwaltungsleiter Wilhelm Großmann und die beiden Ärzte, Hermann Wesse und Mathilde Weber, entsprechend der Strafanträge der Staatsanwaltschaft zum Tode, die Oberschwester Wrona zu acht Jahren Zuchthaus sowie die zwei restlichen Angeklagten wegen Misshandlungen zu zehn und vier Monaten Gefängnis. Das Verfahren zieht sich, da alle Verurteilten in die Revision gehen, bis Mitte der fünfziger Jahre hin. Bereits am 09.02.1949 verurteilt das Schwurgericht Frankfurt den 1947 noch zum Tode verurteilten Großmann sowie Mathilde Weber zu 4½ und 3½ Jahren Zuchthaus, die Oberschwester Wrona wird von der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Großmann muss seine Reststrafe aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr antreten, Weber wird noch im Februar 1949 entlassen. Der Arzt Hermann Wesse wird wegen der von ihm in der Kinderfachabteilung Waldniel verübten Verbrechen in einem weiteren Prozess in Düsseldorf am 24.11.1948 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt und im September 1966 wegen Haftunfähigkeit entlassen.

 

ULI: Haben Sie hierfür eine Erklärung?

Hartmann-Menz: Für die Standorte Weilmünster, Eichberg und Kalmenhof aber auch Hadamar ist belegt, dass Initiativen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der dort geschehenen Verbrechen in der NS-Zeit ausschließlich von außen kamen. Der erste Impuls in Idstein wurde im Jahr 1981 durch Pfarrer Siebert (evangelische Kirchgemeinde Heftrich 1975-1983) gesetzt, der in einem Brief an die Leitung des Kalmenhofes „Spurensicherung vor Ort“ einforderte. Hintergrund war eine vom Pfarramt Heftrich und der Aktion Sühnezeichen durchgeführte Fahrt an die Stätten der Vernichtung in Polen. Noch im Jahr 1978 waren die Morde auf dem Kalmenhof im Rahmen der 90-Jahrfeier des Kalmenhofs öffentlich geleugnet worden (siehe ZEIT-Artikel „Euthanasie 40 Jahre Schweigen“). Selbstverständlich hat es hier inzwischen einen Bewusstseinswandel gegeben. Mit Blick auf die gegenwärtige Gedenkkultur in der Bundesrepublik Deutschland ist dennoch zu konstatieren, dass für die im Zuständigkeitsbereich des LWV (Landeswohlfahrtsverband) liegenden Stätten des Terrors deutlich Aufholbedarf besteht. Ganz sicher aber fehlt dem LWV als Kommunalverband mit vollkommen anderen Aufgaben die notwendige Expertise, die Gräberfelder fachgerecht zu orten.

 

Martina Hartmann-Menz M.A.

Studium der Geschichte, Germanistik und Anglistik in Frankfurt/Main
Abschluss in englischer Wissenschaftsgeschichte
Lehrerin an der Fürst-Johann-Ludwig und der Glasfachschule Hadamar

Berufenes Mitglied der Historischen Kommission für Nassau
Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar (2004-2011)
Interkulturelle Arbeit in diversen Gremien
Forschungen zur Regionalgeschichte mit den Schwerpunkten  Holocaust, Patientenmord, jüdische Geschichte
Biografische Recherchen zu Frankfurter Opfern des Holocaust mit Schwerpunktsetzung auf sog. „Asoziale“
Wissenschaftliche Beteiligung (2012) bei der posthumen Aberkennung des Ehrenbürgerrechts für den NS-Täter und ehem. Landrat im Landkreis Limburg, Heinz Wolf
Erstellung des Gutachtens (2014) zur Biografie und ideologischen Verankerung des NS-Pädagogen Franz Kade als Diskussionsgrundlage der im Jahr 2015 erfolgten Umbenennung der ehemaligen Franz-Kade-Schule in Idstein Wörsdorf
Mitglied in der von Vitos Eichberg (2016) einberufenen Kalmenhof-Kommission
Mitarbeit in den Stolpersteine-Initiativen Frankfurt, Kassel, Stuttgart, Hadamar und Bad Camberg
Forschungsprojekte: Opfer des Patientenmordes im erweiterten Landkreis Limburg Weilburg; Elz in der NS-Zeit mit Erstellung der Biografien für die Verlegung von Stolpersteinen im Auftrag der Gemeinde Elz.